ADHS bei Erwachsenen – nein, es ist keine Modediagnose!

ADHS bei Erwachsenen – nein, es ist keine Modediagnose!

ADHS bei Erwachsenen ist kein Mythos und auch keine Modediagnose – auch wenn es selbst in Fachkreisen noch immer Irritation oder Skepsis hervorruft. In der Gesellschaft dominieren weiterhin stereotype Bilder vom „Zappelphillipp“ oder der verträumten, vermeintlich „faulen“ Schülerin. Diese Vorstellungen wandeln sich zwar langsam, greifen aber oft zu kurz.

Dabei ist ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) eine neurobiologische Entwicklungsstörung, die zwischen 2,5 – 3 Prozent aller Erwachsenen und sogar 5-6 Prozent der Bevölkerung über alle Altersklassen hinweg betrifft.  Vor allem ist ADHS weit vielschichtiger in ihrer Ausprägung, als es landläufig bekannte Klischees vermuten lassen. ADHS wächst sich im Erwachsenenalter meist auch nicht einfach aus – etwa 40-60 Prozent der Kinder weisen im Erwachsenenalter ebenso Symptome auf, wenn teilweise auch in etwas anderer Form. Ein vollständiger Rückgang der Symptome im Erwachsenenalter wurde sogar nur bei ca. 10-20 Prozent beobachtet.

Symptome treten oft nur unter bestimmten Bedingungen auf

Bevor ich aber darauf eingehe, welche Symptome und Einschränkungen Menschen mit ADHS erleben können, ist mir ganz wichtig zu betonen, dass die Schwierigkeiten oft vor allem dann auftreten, wenn eine Aufgabe als langweilig, repetitiv oder wenig belohnend erlebt wird.

Im Gegensatz dazu können dieselben Personen bei neuen, spannenden oder stark interessengeleiteten Aufgaben eine bemerkenswerte Fokussierung und Leistungsfähigkeit zeigen. Das führt leider oft dazu, dass Symptome als willkürlich oder unglaubwürdig wahrgenommen werden. Nicht selten bekommen Menschen mit ADHS dann den Stempel „faul“ verpasst. Eine Fehleinschätzung, die nicht nur den Selbstwert und das Selbstbild beschädigen, sondern auch Diagnostik und Behandlung verzögern oder verhindern kann.

Wie äußert sich ADHS bei Erwachsenen?

Wie zeigt sich aber nun ADHS genau und wieso ist es mitunter so schwer zu erkennen, wenn doch die übergeordneten Symptome so kompakt formulierbar sind? Dabei handelt es sich nämlich um:

  • Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration
  • Impulsivität
  • Hyperaktivität


Alles klar, oder? Ich befürchte nicht.

Der Eisberg unter der Oberfläche dieser Überbegriffe ist nämlich ein eigenes Universum und führt in die komplexe Welt der Exekutiven Funktionen. Das ist eine Gruppe kognitiver Fähigkeiten, die in unserem Frontalhirn sitzen, von denen die für ADHS am relevantesten nachfolgend kurz umrissen werden sollen.

Exekutiven Funktionen auf der Spur

Als besonders ausgeprägt gilt bei ADHS oft eine Einschränkung des Arbeitsgedächtnisses, das für das kurzfristige Behalten und Bearbeiten von Informationen zuständig ist. Defizite in diesem Bereich führen dazu, dass man häufiger den Überblick verliert, Schwierigkeiten beim Planen hat und Aufgaben mitunter nur unvollständig ausführen kann.

Auch die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren und störende Reize auszublenden, ist meist weniger ausgeprägt, was impulsives Verhalten und gedankliche Sprunghaftigkeit zur Folge haben kann. In diesem Zusammenhang berichten Betroffene häufig von innerer Unruhe, dem Gefühl, „nicht stoppen zu können“, selbst wenn sie es wollen oder auf der anderen Seite ständig abgelenkt zu sein und nicht ins Tun zu kommen.

Aber vor allem auch Probleme bei der Regulation von Emotionen haben es in sich. Das bedeutet nämlich, dass Gefühle wie Frustration, Ärger, Enttäuschung oder auch Euphorie nicht ausreichend gesteuert werden können – sie treten schneller auf, sind intensiver und halten länger an. Auch die Möglichkeit sich emotional zu distanzieren ist dann schwieriger.

Diese Symptome werden häufig missverstanden oder bagatellisiert, obwohl sie stark zur Alltagsbeeinträchtigung beitragen. Studien zeigen, dass emotionale Dysregulation bei Erwachsenen mit ADHS nicht nur häufig vorkommt, sondern auch in engem Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit, Beziehungskonflikten und beruflichem Misserfolg steht.

Diese Kombination aus Reizoffenheit und emotionaler Reizbarkeit kann im Alltag dazu führen, dass Betroffene sich sozial zurückziehen, häufiger in Konflikte geraten oder Tätigkeiten meiden, die mit emotionalem Stress verbunden sind. In der Therapie ist es deshalb wichtig, gezielt Strategien zur Emotionsregulation und Reizfilterung zu vermitteln.

Darüber hinaus kann die kognitive Flexibilität, also das Umschalten zwischen Aufgaben oder Denkstrategien, eingeschränkt sein. Das zeigt sich dann beispielsweise in starrem Verhalten, Entscheidungsblockaden oder Überforderung bei Veränderungen.

Weitere betroffene Funktionen sind Planung, Problemlösen und Aufmerksamkeitssteuerung – all jene Prozesse, die es ermöglichen, langfristige Ziele zu verfolgen und Handlungen zu strukturieren.

Ursachen: Genetik, Gehirnstruktur und Umwelt

Grob zusammengefasst sind an der Entstehung von ADHS genetische und neurobiologische Faktoren, sowie Umgebungseinflüsse zusammenspielend beteiligt. Bei einer ADHS sind manche Bereiche im Gehirn weniger aktiv vernetzt oder weniger effizient als bei neuronormativen Menschen. Auch eine Dysfunktion der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin spielt eine Rolle, die unter anderem für Aufmerksamkeit, Motivation, Belohnung oder Wachheit zentral sind. Dabei betrifft die Dysregulation dieser Neurotransmitter vor allem das Belohnungssystem, was erklärt, warum „langweilige“ Aufgaben so schwer fallen.

Es ist wichtig zu betonen, dass bei ADHS das Maß für die Erblichkeit von Eigenschaften bei rund 80 Prozent liegt. ADHS hat also eine starke genetische Komponente. Wobei frühkindlicher / chronischer Stress jeglicher Ausprägung (Trauma, Reizüberflutung, inkonsistente Erziehung) genetische und neuronale Dispositionen und somit die Symptomlast verstärken kann.

Warum ADHS oft nicht erkannt wird

Sie haben nun wahrscheinlich schon ein etwas besseres Verständnis dafür bekommen, wie weit sich Einschränkungen in den Alltag ADHS-Betroffener verweben können, wenn oben genannte Fähigkeiten zum Teil nur eingeschränkt verfügbar sind. Viele Betroffene haben aber jahrelang Schwierigkeiten, ohne je diagnostiziert zu werden. Die Symptome werden als persönliche Schwäche, Unfähigkeit oder mangelnde Motivation missverstanden. 

Die einzelnen Schritte eines Kochrezepts nur mit Müh und Not befolgen können? „Ich bitte dich!“, oder sich nach dem Duschen komplett platt zu fühlen (auch hier sind es unzählige Schritte) „übertreib doch nicht schon wieder“. Schneller als man schauen kann, haben Menschen mit ADHS den Stempel „faul“ oder „desinteressiert“ an der Backe.

Chaos und eine emotionale Achterbahnfahrt gerade bei Tätigkeiten, die neuronormative Menschen oftmals nebenher machen, sind ein häufiger Grund für Minderwertigkeitsgefühle und nicht zuletzt soziale Konflikte.

ADHS-Diagnostik und therapeutische Begleitung

Wenn Sie sich in diesen Beschreibungen wiedererkennen, kann es hilfreich sein, eine ADHS-Diagnostik in Erwägung zu ziehen. Diese kann bei Psychiater:innen oder Klinischen Psycholog:innen durchgeführt werden – idealerweise bei Fachpersonen mit spezifischer ADHS-Expertise.

Die Psychotherapie bietet hingegen Raum, Symptome bei Unsicherheit vor einer Diagnostik vorbereitend zu explorieren und einzuordnen, und im Falle einer Diagnosestellung ADHS-bedingte Verhaltensweisen besser von inneren Konflikten oder inneren Überzeugungen unterscheiden zu können.

Neurobiologie und innere Konflikte besser auseinanderhalten

Nur wenn wir die biologischen Grundlagen von ADHS verstehen, können wir genauer hinschauen:

  • Was sind Herausforderungen, die aus der Funktionsweise meines Gehirns entstehen?

  • Und wo liegen wirklich psychische Konflikte, die ich aufarbeiten kann?

Diese Unterscheidung schafft Entlastung. Sie hilft, nicht alles über einen Kamm zu scheren – sondern mit liebevollem Blick die richtigen Hebel zu finden. Das bedeutet nicht, Verantwortung abzugeben. Im Gegenteil: Es ermöglicht, Verantwortung da zu übernehmen, wo sie sinnvoll ist – und sie dort loszulassen, wo sie nur Druck erzeugt.

Literatur

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz (2023): Habe ich AD(H)S? … und wenn ja, was mache ich Gutes draus. Gräfe und Unzer Verlag. 

Barkley, R. A. (2023). Das große Handbuch für Erwachsene mit ADHS: Ursachen, Diagnostik, Therapie und Selbsthilfe (T. Fischbach, Übers.). Hans Huber Verlag.

Faraone, S. V., Banaschewski, T., Coghill, D., Zheng, Y., Biederman, J., Bellgrove, M. A., … & Asherson, P. (2021).
The World Federation of ADHD International Consensus Statement: 208 Evidence-based conclusions about the disorder.
Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 128, 789–818. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2021.01.022

Custodio, R. J., Gonçalves, M., & Garcia, A. (2023). Adult ADHD: it is old and new at the same time – what is it? Reviews in the Neurosciences. https://doi.org/10.1515/revneuro-2023-0071

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